Grossvater erzählt eine Geschichte, Albert Anker, ca. 1884.

Storytelling

Die Welt ist alles, was der Fall ist.

 

Unser Bewusstsein ist ein Strom mentaler Bilder, die sich zusammensetzen aus vergangenen Erfahrungen, gegenwärtigen Wahrnehmungen und Projektionen in eine ungewisse Zukunft. Die Menschen fühlen sich verloren in diesem Strom aus Möglichkeiten, Chancen und Risiken, vor allem auch, weil sie die Fähigkeit besitzen, sich Dinge vorzustellen, die nicht existieren. Voraussetzung dafür ist die Idee eines direkten oder indirekten Zusammenhangs von Ursache und Wirkung.

 

In einer einfachen Form des Bewusstseins erleben wir uns von einer im Grunde unverständlichen und undurchschaubaren Welt bedroht und dieser ausgeliefert. Was wir handelnd nicht bewältigen, lässt sich scheinbar bestenfalls beschwören. Sobald sich das Bewusstsein vom eigenen Willen entwickelt, wird im Gegenzug ein solches auch allen Phänomenen unterstellt, die sich dem Menschen entgegenstellen. Alle Lebewesen und Gegenstände, so wir sie als einflussreich auf unser Leben betrachten, haben demnach ebenfalls einen Willen. Der Stein fällt uns mit Absicht auf den Kopf. Er hat sich gegen uns verschworen. Mit Hilfe von Opfern oder Magie, so hoffen wir, lassen sich die den Erscheinungen innewohnenden Geister beschwören. Auch heute noch können wir erleben, wie Menschen zum Beispiel auf ihren Computer oder ihr Fahrzeug einreden, um eine »Verhaltensänderung« zu erreichen.

 

Die Wahrnehmung konzentriert sich deshalb immer mehr auf das, von dem wir glauben, dass es zwischen den Dingen stattfindet. Diese imaginierte Wirkungs-macht ist vorderhand unsichtbar. Menschen haben deshalb große Anstrengungen unternommen, diese Mächte in eine begreifbare Form zu kleiden. Wir haben begonnen, uns Geschichten darüber zu erzählen, welche Ursachen wir den Ereignissen zuschreiben, die uns immer wieder überraschen.

»Storytelling« ist der Versuch, mit Hilfe von Metaphern eine Ordnung in diese Welt zu bringen. Dies geschieht, indem einzelne Erfahrungsbruch-stücke so zueinander in Verbindung gestellt und miteinander verwoben werden, dass ein in sich kohärent erscheinendes Bild entsteht. So konnte eine Vorstellung von der Welt entstehen, in der einzelne Charaktere mit ihren Intentionen das Schicksal der Geschichte prägen. Caesar, Jesus, Napoleon, Hitler, Mao und Steve Jobs halten demnach das Ruder in der Hand und steuern die Geschicke der Menschheit. Sie stehen gleichsam autonom außerhalb aller Zusammenhänge und schreiben aus sich selbst heraus Geschichte.

 

Aus den unendlich vielen kreisenden Gedanken und den sich daraus entwickelten Stories haben sich im permanenten Austausch einzelne Erzählungen als besonders beliebt und erfolgreich herausgestellt. Dieser Fundus an Legenden und Mythen erwies sich zugleich als ein leistungsfähiges Fundament für die Kooperation in größeren Gruppen. Unabhängig von den je einzelnen Befindlichkeiten und Interessen entstand so ein Rahmen, auf den sich alle in gleichem Maße beziehen können. Es ist dadurch nicht mehr notwendig, permanent alles und jedes untereinander auszuhandeln. Solange wir davon ausgehen können, dass die Mehrzahl der Menschen, mit denen wir zu kooperieren gedenken, sich in ihrem Handeln auf den gleichen Fundus an Erzählungen bezieht, spielt es eine untergeordnete Rolle, ob die Mythen und Legenden uns wirklich überzeugen.

 

Im Laufe der Zeit haben Menschen ein unglaublich dichtes Netz abenteuerlichster Fantasiegeschichten geschaffen, die vielfach bis heute das Denken und damit auch Handeln der Menschen beherrschen.

 

Diese erfundenen Vorstellungen sind jedoch immer wieder von Un- oder Andersgläubigen bedroht. Seit Jahrtausenden bekämpfen und ermorden sich Menschen gegenseitig in der Hoffnung, so ihre Vorstellungswelt durchzusetzen oder zu retten. Umso mehr uns die Verschiedenartigkeit der Menschen und damit die Relativität unserer eigenen Vorstellungen bewusst wird, desto unumgänglicher scheint der Wunsch nach einer allgemein verbindlichen Ordnung zu werden. Dieses Problem lässt sich lösen, wenn Handeln und Erleben getrennte Wege gehen. Während die Handlungsspielräume in unserer Gesellschaft durch eine wachsende Anzahl von Anweisungen, Regeln und Gesetzen sukzessive mehr und mehr eingeschränkt werden, kann als Ausgleich eine immer reichere, vorwiegend virtuelle Erlebniswelt entstehen, in der jeder unserer Wünsche offenbar in Erfüllung geht, zumindest in der »Möglichkeitsform«: Wir haben Geld und könnten uns deshalb alles kaufen. Millionen von Objekten liegen in den Geschäften bereit. Wir sind möglichst attraktiv und könnten deshalb beliebig viele Beziehungen eingehen. Millionen von Männern und Frauen suchen auf Internet-Börsen nach einer Partnerin oder einem Partner. Sobald wir uns jedoch für die eine oder andere Möglichkeit entscheiden, laufen wir Gefahr, enttäuscht zu werden und beginnen in anderen Optionen bessere Chancen für die Erfüllung unserer Wünsche zu erblicken. Sobald wir jedoch bereit sind, auf analogen Besitz und reale Beziehungen zu verzichten, öffnet sich uns heute die unendliche Weite digitaler Erlebnisoptionen.

 

Mit Hilfe von Riten, Räumen, Bildern, Gegenständen und vielem mehr, haben wir eine »virtuelle Welt« erschaffen, die uns helfen soll, das Unbegreifbare begreifbar und damit auch eventuell veränderbar zu machen. Es ist den Menschen gelungen, immer umfassendere Medienangebote zu entwickeln, die sich in ihrer Wirkung Zug um Zug mit anderen Wahrnehmungsformen so weit überlagern, dass sie sich kaum noch auseinanderhalten lassen. Mehr als sechs Stunden täglich verbringen Deutsche im Durchschnitt mit der Nutzung von Medien. Haben wir es selbst gesehen oder nur davon gehört? Glauben wir an die Existenz eines Phänomens auf Grund eigener oder lediglich medial vermittelter Wahrnehmungen?

 

Angeblich hat jeder Deutsche heute durchschnittlich rund 10.000 Gegenstände in seiner Wohnung ange-sammelt. Diese Objekte haben nicht einfach nur eine unmittelbare »Werkzeugfunktion«, sondern über-nehmen vielfach vorwiegend eine »Erzählfunktion«. Sie erinnern uns an Vergangenes sowie an jene Ziele, die wir uns gesetzt haben. Sie sollen als Ausdruck dafür dienen, was uns ausmacht und welchen Sinn wir unserem Leben abringen wollen. Die Gegenstände in unserer Lebensumgebung sind so etwas wie Manifestationen unserer Vorstellungswelt.

 

 

 

Marken dienen den Menschen dabei als Ausgangs-punkte für vielfältigste Assoziationen. Nur mit ihrer Hilfe sehen wir uns überhaupt erst in der Lage, eine Beziehung zu bestimmten Ideen zu entwickeln. Im Allgemeinen ist uns bewusst, dass wir uns diesbe-züglich etwas »vormachen«. Wir wissen, es ist ein Spiel und wir kennen die Spielregeln. Aber solange genügend Mitspieler zu finden sind, lassen sich auch mit rein fiktiven Ideen reale Wirkungen erzeugen.

 

Die Vorstellungswelt der Menschen heute erweist sich zumeist als eine Mischung unterschiedlichster und zum Teil sogar widersprüchlicher Geschichten. So klopfen zum Beispiel viele immer noch auf Holz, in der Hoffnung, dadurch ein Unheil abwenden zu können. Zugleich glauben sie an ein Schicksal, das sie entweder dem Lauf der Sterne oder einer göttlichen Vorsehung zu verdanken haben. Aber sie glauben auch an den unendlichen Fortschritt der Wissen-schaft und hoffen deshalb auf die magische Wirkung von Duschgels und anderer Markenartikeln. Während die meisten Menschen sich in einem gewaltigen Netz aus Geschichten verfangen und einrichten, haben sich Bereiche entwickelt, in denen Stories keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen.

 

Da existiert vor allem eine Welt der Zahlen, Formeln und Statistiken. Hier gibt es keine guten oder bösen Absichten, sondern lediglich Funktionszusammen-hänge, die sich berechnen und beziffern lassen. Es spielt keine Rolle, warum sich etwas bewegt. Entscheidend ist nur, diese Bewegung beobachten zu können, um aus ihr in der einen oder anderen Form zu profitieren. Auf den Börsen der Finanzwelt lässt sich auch noch aus dem Scheitern von Unternehmun-gen Gewinne ziehen, wenn jemand ein solches Ereignis rechtzeitig voraussieht und darauf wettet.

 

Für Google spielt es keine Rolle, nach welchen Informationen die Menschen suchen, solange es dem Konzern gelingt, möglichst hohe Gewinne aus der Platzierung von Links im Zusammenhang mit besonders beliebten Begriffen zu gewinnen. Facebook ist es gleichgültig, worüber sich die Menschen unterhalten, solange sie sich so sehr für die Postings ihrer »Freunde« interessieren, dass sie eine wachsende Anzahl von Werbeeinschaltungen in Kauf nehmen. Dating-Portale kümmern sich nicht darum, ob die Vermittlungen zu geglückten oder missglückten Beziehungen führen, solange sich die eingegebenen Daten mit Gewinn an andere Unter-nehmen verkaufen lassen.

 

Während für die Mehrheit der Menschen erfundene Geschichten jenen Bereich definieren, der als das erfahren wird, was die Lebensrealität ausmacht, werden zunehmend die wirtschaftlichen Gewinne von jenen gemacht, die sich auf die Auswertung von Zahlen konzentrieren und sich dabei von Stories so wenig wie möglich beeinflussen lassen.