Prokrastination oder die Angst der Menschen vor ihren Ideen

Das Aufschieben von drängenden Aufgaben wird gerne im Zusammenhang mit der Schwierigkeit diskutiert, ein Studium in vorgegebener Zeit zu Ende zu führen. Damit sich etwas überhaupt aufschieben lässt, müssen wir erst einmal die Chance erhalten, selbst zu entscheiden, wann wir welche Arbeitsschritte erledigen. Wann immer Menschen sich genötigt fühlen, eine als unangenehm empfundene Tätigkeit zu verrichten, lassen sich in vielen Bereichen Taktiken der Verzögerung beobachten, die sich selbst in kleinsten Umwegen und Umständlichkeiten äußern. Selbst in so genannten „Fast Food Restraurants“ oder auf „Postämtern“ wundert man sich manchmal darüber, wie lange es dauern kann, bis ein paar routinemäßige Handgriffe erledigt werden. In vielen Arbeitsbereichen ist eine hartnäckige Verweigerung, den Erwartungen zu entsprechen, jedoch kaum zu realisieren. Sobald wir glauben, eine Aufgabe müsse nicht von uns alleine, sondern von einem Team erledigt werden, kann die Energie, die aufgewendet wird, Strategien zu entwickeln, wie sich die Arbeit auf die Schultern der anderen Teammitglieder verteilen lässt, die Konzentration auf die Lösung der Aufgabe sogar übersteigen.

Wenn wir uns allerdings außerhalb der Arbeitswelt umsehen, lässt sich sehr oft auch das extreme Gegenteil einer Erledigungsblockade beobachten: Welche unbeschreiblichen Belastungen nehmen Menschen auf sich, wenn sie ein bestimmtes Ziel vor Augen haben! Sie trainieren unermüdlich, üben, verschulden sich, riskieren mitunter sogar ihr Leben, nur um einen Berg zu erklimmen, ein Musikstück vortragen zu können oder ein bestimmtes Sammlerstück an sich zu reißen. Es lässt sich demnach nicht behaupten, dass die Kunst des Verschleppens und Verzögerns alle Bereiche menschlichen Handelns gleichermaßen betrifft. Erledigungsblockaden treten demnach vorwiegend dann auf, wenn Aufgabenstellungen sich nicht mit unseren Zielvorstellungen decken. Der Wunsch nach „Vertagung“ ist daher auch ein hilfreicher Hinweis darauf, dass sich eine arbeitsteilige Welt spezialisierter Tätigkeiten entwickelt hat, die uns vor allem dann fremd erscheint, wenn sie uns mit ihren Anforderungen unmittelbar betrifft. Vielleicht sollten wir daher weniger Techniken erlernen, wie es uns gelingt, als sinnlos empfundenes Handeln besser zu managen, als diese Sensibilität zu wahren und zu steigern, um nicht darauf zu vergessen, die Lebensumstände so zu ändern, dass alles, was wir zu tun gedenken, mit Sinn erfüllt erscheint.

 

Sobald wir nicht mit unseren Händen, sondern mit unserem Gehirn arbeiten sollen, ist es im allgemeinen besonders schwer, gegen den eigenen Willen zu handeln. Selbstvergessen manuelle Arbeit zu verrichten, ist leichter möglich, als mit hoher Konzentration der eigenen Gedankenwelt Gewalt anzutun. Was in den Kopf nicht will, ist auch gedanklich nicht leicht zu bewältigen.

 

Insofern ist es mehr als verständlich, dass sich unter Studierenden leicht umfangreiche Methoden des Aufschiebens, des Verzögerns und Umgehens entwickeln können. Umso mehr scheint es verwunderlich, wenn sich auch in der so genannten „Kreativbranche“ Prokrastination beobachten lässt, wo sich doch angeblich hier, wie in kaum einem anderen Bereich, Menschen selbst verwirklichen und ihren persönlichen Befindlichkeiten Ausdruck verleihen sollen. Woher kommt also die Angst vor dem leeren Blatt? Was macht es mitunter so schwer, selbst spannende Aufgaben anzugehen?

 

Was uns im Allgemeinen gut überleben lässt, ist unsere Blindheit für die Chancen auf Veränderung. Kultur ist immer das Ergebnis von einmal getätigten Leistungen der Selektion. Wir haben uns für uns selbst, oder im Rahmen einer bestimmten Gemeinschaft, entschieden, etwas in einer bestimmten Weise zu bewerten. Dass wir uns auch anders hätten entscheiden können, bringt Unsicherheit und Unruhe ins Leben, die wir in der Regel zu vermeiden trachten. Sobald nun eine gestalterische Arbeit auf uns wartet, haben wir entweder die Möglichkeit, diese in gewohnter Weise zu erledigen, oder wir sehen uns mit dem Problem konfrontiert, entgegen den allgemeinen Übereinkünften zu handeln und etwas außerhalb des Gewohnten und Üblichen auszuprobieren. Dabei ist es alles andere als schwierig, eine „Idee“ zu haben. Schwierig wird es erst, wenn eine „Idee“ aufgrund ihrer Andersartigkeit die Konventionen einer Kultur in Frage stellt und in ihren Grundfesten erschüttert. Schwieriger, als eine „Idee“ zu entwickeln, ist es, etwas auf gewohnte Weise zu erledigen und dabei dennoch einen Moment der Überraschung zu bewirken. Es lässt sich daher eine beachtliche Verschwendung von Energie beobachten, die nichts anderes bewirkt, als mitunter sogar als völlig sinnlos akzeptierte Routinen noch einmal in der einen oder anderen Form zum Glänzen zu bringen. Gefeiert werden allerorts heute noch die Helden einer solchen „Zauberkunst“, die Illusionisten der Veränderung, die Dekorateure der Hoffnungslosigkeit.

 

Prokrastination hat sich demnach von einer persönlichen auf eine gesellschaftliche Ebene verschoben. Was als „Krise“ deklariert wird, ist nichts anderes als eine kollektive Verweigerung längst fälliger Veränderungen und kultureller Erneuerungen. Es mangelt dabei nicht an Ideen und Lösungsansätzen. Das Problem der Aufschieberei ist auch keines, das durch einen vermeintlichen Mangel an Macht entsteht. Es hat sich eine Gesellschaft entwickelt, die nichts mehr liebt als die Illusion der Sicherheit und dafür alles zu opfern bereit ist: Privatheit, Freiheit, Eigenständigkeit und vieles mehr. Jeder Versuch, Neues zu wagen, ist mit Risken verknüpft. Um solchen Risken aus dem Weg zu gehen, ist unserer Gesellschaft heute kein Weg zu weit. Es lebe demnach die Prokrastination oder die Angst der Menschen vor ihren Ideen!